Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Klimaschutzgesetz: Die tragende Rolle von Gerechtigkeit in der Klimakrise
07.05.2021
Am 29. April 2021 wurde vom Bundesverfassungsgericht ein wirklich historisches Urteil gefällt. Neun junge Menschen klagten gegen das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung und bekamen vor dem Bundesverfassungsgericht in Teilen recht: Das Klimaschutzgesetz ist unvereinbar mit den Grundrechten vor allem der jungen Generation. Generationengerechtigkeit wird somit auf höchster juristischer Ebene als ein zentrales Motiv für effektiven Klimaschutz anerkannt, denn es „darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde“ (Pressemitteilung des Gerichts). Die CO2-Reduktion muss bis 2030 viel rigoroser und schneller passieren, damit nicht in den Jahren nach 2030 eine massive Reduktion notwendig wird, durch die die Freiheitsrechte der jungen und zukünftigen Generation massiv eingeschränkt werden würden.
Dieses Anerkennen der Rechte junger Menschen ist so historisch und bahnbrechend, weil es so wenig selbstverständlich ist. Zwar schrieb bereits 1987 der Brundtlandbericht Generationengerechtigkeit als zentrales Prinzip der nachhaltigen Entwicklung fest, jedoch blieb Generationengerechtigkeit eine eher abstrakte Formel, die kaum mit konkreten Maßnahmen gefüllt wurde. Eher im Gegenteil wurde Jugendlichen und jungen Erwachsenen kaum zugetraut, Politik für langfristige Zukünfte mitzugestalten. Als Fridays for Future 2019 auch in Deutschland erfolgreich für Klimaschutz mobilisierten, reagierten etablierte Politiker*innen mit Skepsis und Arroganz. Christian Lindner betonte damals, dass diese Kinder und Jugendlichen doch den Profis die Klimaschutzpolitik überlassen sollten.
Zwei Jahre später nun fordert das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung auf, das Klimaschutzgesetz im Sinne der Rechte der jungen Generation zu überarbeiten. Dieser Richtungswechsel vollzieht sich vor dem Hintergrund einer Pandemiebekämpfung, der zunehmend vorgeworfen wird, vor allem junge Menschen und Kinder zu benachteiligen. Das geschieht aber auch vor dem Hintergrund einer Coronapandemiepolitik, die vermehrt dafür kritisiert wird, vor allem Jugendliche und Kinder zu benachteiligen. So stellt Sascha Lobo in seiner Spiegel-Kolumne sichtlich fassungslos fest: „Es hätte – bitte festhalten und möglichst nur wutbissfeste Gegenstände in Mundreichweite belassen – rund ein Sechstel des ersten Hilfspakets für die Lufthansa gekostet, die Klassenräume in Deutschland mit Luftfiltern auszustatten.“ Dass Corona Ungleichheiten verschärft, wurde bereits relativ schnell im letzten Jahr deutlich. So stiegen die Infektionszahlen vor allem in Gegenden, in denen Menschen mit niedrigem Einkommen, in Dienstleistungsjobs ohne Home-Office-Möglichkeit und in engen Wohnverhältnissen wohnten. Jedoch fand die Politik oft keine passenden Antworten darauf. Die Gesundheit von Schüler*innen in Klassenräumen schien die Politik ebenso nebensächlich zu behandeln, wie die Freiheitsrechte der Generationen, die in ein paar Jahrzehnten die Folgen einer ineffektiven Klimaschutzpolitik ertragen müssen. Doch seit dem Ausspruch von Lindner hat sich offensichtlich etwas getan. Generationengerechtigkeit ist Thema im öffentlichen Diskurs. Die aufgeworfenen Ungleichheiten durch die Pandemiepolitik werden kritisiert und das Bundesverfassungsgericht kassiert ein ungerechtes Klimaschutzgesetz. Aber nicht nur Gerechtigkeit gegenüber jungen Menschen ist zum relevanten Thema geworden in der Öffentlichkeit. Auch anderen Dimensionen von Gerechtigkeit werden im Zusammenhang mit globaler und nationaler Klimapolitik im wissenschaftlichen Diskurs und der breiteren Öffentlichkeit zunehmend diskutiert, wie zum Beispiel globale Nord-Süd-Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit.
Nord-Süd-Gerechtigkeit in der globalen Klimapolitik ist eigentlich auch kein neues Thema. Seit der Rio-Konferenz 1992 gibt es auf globaler Ebene das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung, welches den Industrieländern eine größere Verantwortung am Klimawandel durch ihre höheren Treibhausgasemissionen zuschreibt. Obwohl dieses Prinzip globale Gerechtigkeit in der Klimapolitik herstellen sollte, wurde es gerade von Ländern des Globalen Nordens eher in den Hintergrund geschoben. Jedoch hat sich die Aufmerksamkeit für diese Problematik in den vergangenen Jahren sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der wissenschaftlichen Debatte erhöht. 2019 stellten Luisa Neubauer und Greta Thunberg Aktivist*innen aus dem Globalen Süden in den Mittelpunkt, als sie auf der COP 25 in Madrid eine vielbeachtete Pressekonferenz gaben. So wollten sie die Klimapolitik im Globalen Süden sichtbarer machen. Greta Thunberg sagte: „Luisa and I want to use our platform to lend our voices to those who need to tell their stories. So me and Luisa will not be speaking today. Instead we will let others speak. We are privileged and our stories have been told many times.“ Auch wenn das Vorhaben misslang, weil in den Medien doch nur über Thunberg und Neubauer berichtet wurde, kann man hier doch den Versuch erkennen, Ungleichheiten zu problematisieren und diskursive Verschiebungen vorzunehmen.
Auch Wissenschaftler*innen beschäftigen sich in den letzten Jahren z.B. mit der ungleichen Beteiligung von NGOs aus dem Globalen Süden an Klimaschutzkonferenzen. So schreiben Gereke und Brühl (2019), dass nur etwa ein Viertel aller NGOs, die an verschiedenen COPs (2009-2015) teilnehmen, aus dem globalen Süden kommen. Die überwiegende Mehrheit stammt aus dem globalen Norden. Das kann enorme Konsequenzen dafür haben, wie Klimapolitik gedacht und entschieden wird. Klimakonflikte des Globalen Südens kommen kaum vor oder werden an den Rand gedrängt. In der Anthropozänforschung wurde kürzlich sehr prominent der Begriff der „planetaren Gerechtigkeit“ eingeführt (Biermann and Kalfagianni 2020). Auch in der Wissenschaft selbst stellt sich dieses Problem. So zeigt eine Studie von Jens Marquardt (2018), dass in der Forschung zum Anthropozän, 89 Prozent der wissenschaftlichen Arbeiten über das Anthropozän von Wissenschaftler*innen im globalen Norden und nur 11 Prozent aus dem globalen Süden stammen. Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Umweltwissenschaften, die laut Bansard und van der Hel (forthcoming, 2021) nicht nur dominiert werden von Wissenschaftler*innen aus dem Globalen Norden, sondern sich auch vor allem auf moderate oder kalte Klimazonen fokussieren. Subtropische und tropische Regionen werden weitaus weniger beforscht (Bansard & van der Hel, forthcoming).
Auch soziale Gerechtigkeit ist wieder in den öffentlichen Diskurs eingezogen, sowohl im Kontext der Coronapandemie als auch in der Klimakrise. Effektive Klimapolitik wird und wurde sehr oft als unrealistisch beschrieben, weil sie zu sozialen Ungerechtigkeiten führe. Die Kosten für Energiewende, die hohen Kosten für Biolebensmittel – es gibt viele Beispiele, die scheinbar darauf hindeuten, dass Klimapolitik nur etwas für Besserverdienende sei und den sozialen Frieden gefährden könnte. Gerade in letzter Zeit haben aber beispielsweise Bündnis 90/Die Grünen Vorschläge gemacht, wie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zusammengehen können. Unter den Vorsitzenden Baerbock und Habeck haben sich die Grünen recht erfolgreich aus der „Ökonische“ herausbewegt und stärker den Anspruch an soziale Gerechtigkeit kommunizieren können. Das hat die Grünen (neben anderen Gründen) jenseits ihrer Stammwähler*innenschaft glaubwürdiger gemacht und schlägt sich dieser Tage in Rekordumfragehochs und der ersten grünen Kanzlerkandidatin nieder. Auch Fridays for Future hat die Relevanz von sozialer Gerechtigkeit erkannt. So geht Fridays for Future Koalitionen mit der Gewerkschaft Ver.di ein um Vorschläge für eine sozial gerechte Energiewende auszuarbeiten. Erst kürzlich, am 5. Mai 2021, erschien ein gemeinsames Positionspapier von Fridays for Future, Ver.di und Unteilbar für eine solidarische Gesellschaft.
Diese unterschiedlichen Fragen der Gerechtigkeit in Klimaschutz und in der Nachhaltigkeitspolitik werden in den nächsten Jahren immer wichtiger werden, nicht zuletzt, wenn die sozio-ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie spürbar werden und mit den Folgen der Klimakrise zusammengehen.
Literatur:
Bansard, Jennifer; van der Hel, Sandra (forthcoming, 2021) Science and democracy: partners for sustainability? In: Bornemann, Basil; Knappe, Henrike and Patrizia Nanz. Routledge Handbook of Democracy and Sustainability, Routledge
Biermann, Frank; Kalfagianni, Agni (2020): Planetary justice: A research framework. In: Earth System Governance 6 (2), S. 100049. DOI: 10.1016/j.esg.2020.100049.
Gereke, Marika/Brühl, Tanja 2019: Unpacking the unequal representation of Northern and Southern NGOs in international climate change politics, in: Third World Quarterly 40: 5, 870-889.
Jens Marquardt. 2018. “Worlds apart? The Global South and the Anthropocene.” In The Anthropocene Debate and Political Science, edited by Thomas Hickmann, Lena Partzsch, Philipp Pattberg, and Sabine Weiland, Pp. 200-218. London: Routledge.